BGer 2C_365/2022 vom 19. Januar 2023

Öffentliche Beschaffungswesen; rechtliches Gehör (Akteneinsicht); ungewöhnlich niedriges Angebot; Auslegung der Ausschreibungsunterlagen; Ausschluss eines Angebots; Vorschriften über die Preisbildung; Art. 29 Abs. 2 BV; BPUK

Rechtliches Gehör (Akteneinsicht) (Art. 29 Abs. 2 BV) – Das Recht auf Akteneinsicht, das sich aus dem Recht auf rechtliches Gehör ergibt, ist nicht absolut und kann aufgrund von überwiegenden öffentlichen oder privaten Interessen eingeschränkt werden. Eine solche Einschränkung gilt insbesondere für das öffentliche Beschaffungswesen. Die eingereichten Unterlagen müssen nämlich vertraulich behandelt werden, soweit Geschäfts- oder Fabrikationsgeheimnisse betroffen sind, die ohne Zustimmung des Bieters oder ohne gesetzliche Grundlage nicht verwendet, weitergegeben oder Dritten mitgeteilt werden dürfen. Nach der Rechtsprechung besteht kein Recht auf Einsichtnahme in konkurrierende Angebote, sondern nur in die Referenzauskünfte, auf die sich die Vergabestelle stützen will, was auch im Beschwerdeverfahren gilt (E. 4.2).

Ungewöhnlich niedriges Angebot und Anspruch auf rechtliches Gehör – Nach gefestigter Rechtsprechung sind nicht kostendeckende Angebote oder Unterbietungen zulässig. Nach dem alten Thurgauer Recht, das auf den vorliegenden Fall anwendbar ist, « darf » die Vergabestelle bei ungewöhnlich niedrigen Angeboten beim Bieter nachfragen, um sich zu vergewissern, dass dieser die Teilnahmebedingungen einhält und die Auftragsbedingungen erfüllt. Nach der Rechtsprechung wird aus diesem Recht eine Pflicht, wenn die Vergabestelle Zweifel an der Fähigkeit des Bieters zur Erbringung der Leistung oder an der Seriosität des Angebots hat und den Ausschluss dieses Bieters in Erwägung zieht. In diesen Fällen muss der Bieter vor einem möglichen Ausschluss angehört werden, da ansonsten der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt wird. Wenn die Auskünfte tatsächlich Lücken aufzeigen oder die Zweifel nicht ausgeräumt werden können, wird das Angebot also ausgeschlossen oder schlechter bewertet; es wird nicht wegen des zu niedrigen Preises ausgeschlossen (E. 5.3).

Auslegung von Ausschreibungsunterlagen – Wiederholung der Grundsätze (E. 6.1).

Im vorliegenden Fall führt die objektive Auslegung der Ausschreibungsunterlagen zum Schluss, dass jede Unterposition den Preis pro Masseinheit oder pro Stück und somit einen Einheitspreis angeben musste. Nur so konnte der Gesamtpreis pro Unterposition berechnet werden, der sich aus der Multiplikation der Menge und des Stückpreises ergab (E. 6.2).

Ausschluss eines Angebots – Gemäss der Rechtsprechung hat die Vergabestelle beim Ausschluss von Bietern einen gewissen Ermessensspielraum. Der Ausschlussgrund muss jedoch eine gewisse Schwere aufweisen, da die Vergabebehörde ansonsten unverhältnismässig und übertrieben formalistisch handelt. Abweichungen von den Ausschreibungsrichtlinien und die Nichteinhaltung der Formvorschriften des Vergaberechts können zum Ausschluss eines Angebots führen. Sind solche Mängel von untergeordneter Bedeutung und beeinträchtigen sie den mit den betreffenden Formvorschriften verfolgten Zweck nicht ernsthaft, dürfen sie jedoch nicht zum Ausschluss eines Bieters führen. Die Beschwerdeinstanz kann nur prüfen, ob die Vergabebehörde die Grenzen ihres Ermessensspielraums im oben genannten Sinne überschritten hat, d.h. ob sie willkürlich gehandelt hat. Bei der Prüfung der Verfahrensregeln für das öffentliche Beschaffungswesen muss sie hingegen nicht die gleiche Zurückhaltung walten lassen (E. 7.1).

Regeln zur Preisbildung – Die Regeln zur Preisbildung, insbesondere die Bedingung, dass Einheitspreise angegeben werden müssen, sind formale Regeln. Ihr Zweck ist es, einen relevanten und vollständigen Überblick über das Preis-Leistungs-Verhältnis von Angeboten zu geben und deren Vergleich zu ermöglichen. Die Nichteinhaltung solcher Vorschriften führt zum Ausschluss vom Vergabeverfahren. Eine Nichteinhaltung solcher Vorschriften liegt insbesondere dann vor, wenn der Bieter für wesentliche Positionen so niedrige, d. h. nicht reale Preise verwendet, dass das Angebot nicht mit anderen Angeboten vergleichbar ist. Die Pflicht zur Angabe von Einheitspreisen soll gerade einen fairen Vergleich zwischen den Angeboten ermöglichen. Daher kann und muss verlangt werden, dass alle wichtigen Einzelpositionen vollständig mit Einheitspreisen ausgefüllt werden. Andernfalls kann das Preis-Leistungs-Verhältnis des Angebots nicht beurteilt werden. In der Regel ist ein solches Angebot auszuschliessen, weil es aufgrund inhaltlicher Mängel nicht vergleichbar ist, aber auch weil es unvollständig ist (E. 7.2).

Im vorliegenden Fall muss das Angebot der Bieterin ausgeschlossen werden, die in vierzehn Positionen, die für das zu erstellende Bauwerk von Bedeutung sind, Einheitspreise von einem Cent anstelle der tatsächlichen Einheitspreise verwendet hat. Denn eine sachgerechte Bewertung dieses Angebots, insbesondere des Preis-Leistungs-Verhältnisses, wird dadurch unmöglich gemacht. Ein solches Angebot ist zudem unvollständig (E. 7.3). Das Bundesgericht fügt noch hinzu, dass der Zuschlagsempfänger verpflichtet ist, die Gleichbehandlung zu respektieren, was nicht der Fall wäre, wenn ein Angebot mit schweren Mängeln in Betracht gezogen würde. Auch ein nachträgliches Ersetzen der Ersatzpreise des strittigen Angebots durch tatsächliche Preise sei aufgrund des Grundsatzes der Unveränderlichkeit der Angebote und des Verbots von Angebotsrunden nicht möglich (E. 7.4).

Öffentliche Beschaffungswesen

Öffentliche Beschaffungswesen

Analyse

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Analyse des Urteils BGer 2C_365/2022

Thomas P. Müller

27. März 2023

Kreativität in der Preisbildung scheidet in Beschaffungsverfahren aus