BGer 6B_375/2022 vom 28. November 2022
Strafrecht; Fahrlässige schwere Körperverletzung; Art. 11, 12 Abs. 3 und 125 Abs. 2 StGB; VUV; BauAV
Fahrlässige schwere Körperverletzung (Art. 11, 12 Abs. 3 und 125 Abs. 2 StGB) – Diese Straftat setzt die Erfüllung von drei Bedingungen voraus, nämlich Fahrlässigkeit, eine Verletzung der körperlichen Integrität und einen natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhang zwischen diesen beiden Elementen. Theoretischer Rückblick auf diese Voraussetzungen und ihre Grundsätze (E. 3.1.1).
Vorschriften über die Unfallverhütung bei Bauarbeiten (VUV und aBauAV) – Nennung der anwendbaren Vorschriften (E. 3.1.2).
Im vorliegenden Fall hat der Unternehmer seine aus Art. 21 VUV, Art. 15 Abs. 1, Art. 16 und Art. 19 Abs. 1 aVUV abgeleitete Sorgfaltspflicht verletzt, indem er keine Schutzvorrichtung anbrachte und somit nicht die notwendigen Massnahmen zur Verhinderung von Stürzen ergriff (E. 3.3.4, 3.3.5, 3.4.2).
Unterbrechung des Kausalzusammenhangs – Das kantonale Gericht hatte jedoch festgehalten, dass der verunfallte Arbeitnehmer, der nun an einer inkompletten Tetraplegie leidet, den adäquaten Kausalzusammenhang durch sein Verhalten unterbrochen hatte, da er nicht aus der ungeschützten Öffnung gefallen war, sondern sich dieser absichtlich genähert hatte, obwohl er nicht an ihr beschäftigt war, um auf das darunter liegende mobile Gerüst zu springen (E. 3.4.1).
Für das Bundesgericht stellt sich die Frage, ob die Installation eines Seitenschutzes oder gleichwertiger Schutzmassnahmen durch den Unternehmer nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der Lebenserfahrung verhindert hätte, dass der Arbeitnehmer absichtlich diesen Weg benutzt und folglich abstürzt. Die einschlägigen Normen sollen sowohl unbeabsichtigte Stürze als auch den Durchgang von Personen, die stürzen könnten, verhindern, um dem eminent gefährlichen Charakter jeder Bautätigkeit und der natürlichen Neigung jeder dort tätigen Person, gelegentlich freiwillig oder unbeabsichtigt Risiken einzugehen, Rechnung zu tragen, solange diese Risiken nicht so außergewöhnlich und unerwartet erscheinen, dass sie die Unterbrechung des adäquaten Kausalzusammenhangs rechtfertigen. Folglich bejaht das Bundesgericht die adäquate Kausalität, da das bloße Vorhandensein von Seitenschutz oder gleichwertigen Schutzmaßnahmen zumindest bewirkt hätte, dass der Arbeitnehmer auf die mit dem geplanten Manöver verbundenen Risiken aufmerksam gemacht worden wäre, und ihn höchstwahrscheinlich dazu veranlasst hätte, den vorgeschriebenen Ausgang zu benutzen. Eine Unterbrechung der Kausalität kann insbesondere deshalb nicht angenommen werden, weil es nicht überraschend ist, dass ein Arbeiter, um Zeit zu sparen oder aus einem anderen Grund, Risiken eingeht, die zu einem unbeabsichtigten Sturz führen können. Das Verhalten im vorliegenden Fall war umso weniger unerwartet, als der vorgeschriebene Zugangsweg mit einem Umweg verbunden war (E. 3.4.2).