BGer 4A_424/2021 vom 23. Juni 2022

Kaufvertrag; öffentliche Form; Rechtsmissbrauch; Art. 216 al. 2 OR; 2 Abs. 2 ZGB

Formzwang – Nach Art. 216 Abs. 1 OR bedürfen Kaufverträge, die ein Grundstück zum Gegenstand haben, zu ihrer Gültigkeit der öffentlichen Beurkundung. Auch Vorverträge sowie Verträge, die ein Vorkaufs-, Kaufs- oder Rückkaufsrecht an einem Grundstück begründen, sind öffentlich zu beurkunden (Art. 22 Abs. 2 und Art. 216 Abs. 2 OR). Bei Missachtung der Formvorschrift ist der Vertrag nichtig im Sinne von Art. 20 OR. er Gesetzgeber will die Parteien vor übereilten Entscheidungen bewahren, ihnen eine professionelle Beratung garantieren und sicherstellen, dass sie die Tragweite ihrer Verpflichtungen verstehen, eine klare und vollständige Willensäusserung fördern und letztlich eine sichere Grundlage für den Eintrag ins Grundbuch schaffen. Fehlt diese Form, ist die Vereinbarung in der Regel absolut nichtig, was der Richter von Amts wegen feststellen muss (E. 4.4.1).

Rechtsmissbrauch (Grundsätze) – Unter bestimmten Umständen relativiert das Bundesgericht die Folgen eines Formmangels, indem es sich auf das Verbot des Rechtsmissbrauchs stützt. Die Generalklausel des Art. 2 Abs. 2 ZGB kann ausnahmsweise die Nichtigkeit aufgrund von Formfehlern in Schach halten; in diesem Fall wird der Vertrag so behandelt, als wäre er gültig. Ob Rechtsmissbrauch vorliegt, ist einzelfallweise in Würdigung der gesamten Umstände zu bestimmen ; wobei Rechtsmissbrauch restriktiv anzunehmen ist. Ein typischer Fall von Rechtsmissbrauch ist die Rechtsausübung, die ohne schützenswertes Interesse erfolgt oder zu einem krassen Missverhältnis berechtigter Interessen führen würde. Im Allgemeinen wird es jedoch als missbräuchlich angesehen, sich auf einen Formfehler zu berufen, nachdem der Vertrag im Wesentlichen freiwillig und in Kenntnis des Fehlers erfüllt wurde. Dagegen wird Rechtsmissbrauch von vornherein ausgeschlossen, wenn die Partei in Unkenntnis des Formmangels gehandelt hat und die vereinbarten Leistungen noch nicht oder zumindest nicht im Wesentlichen erbracht hat. In diesem Fall kann sie nicht zur Erfüllung gezwungen werden, sondern muss den Schaden ersetzen, der durch den Formfehler verursacht wurde. Die Rechtsprechung ist jedoch in erster Linie pragmatisch. Daher schließt sie nicht aus, dass trotz der Nichterfüllung des Vertrags ein Rechtsmissbrauch vorliegt und dessen Durchsetzung angeordnet wird. Das Bundesgericht räumt eine widersprüchliche Rechtsprechung in dem Sinne ein, dass es manchmal darauf verzichtet hat, ein schutzwürdiges Interesse zu verlangen, um einen Formfehler zu rügen, mit der Begründung, dass der Einzelne die Möglichkeit haben muss, sich von einem Vertrag zu lösen, dessen Erfüllung er als seinen Interessen zuwiderlaufend erachtet, während andere Urteile lehren, dass es missbräuchlich sein kann, sich auf einen Formfehler zu berufen, um eine Erhöhung des Immobilienwertes auf Kosten des Vertragspartners auszunutzen oder sich Garantieverpflichtungen zu entziehen (E. 4.1.2).

Im vorliegenden Fall war das Kaufversprechen und der Kaufvertrag in einem schriftlichen Mietvertrag enthalten. Die Parteien waren sich des Formfehlers bewusst und es wurden keine Vollzugshandlungen im Hinblick auf die Immobilienübertragung unternommen, wobei die mögliche Verkäuferin sogar mehrmals entsprechende Pläne ablehnte. Ausserdem wurden die Verhandlungen über den Verkaufspreis nach Abschluss des Mietvertrags mehrmals fortgesetzt. Angesichts eines damit zusammenhängenden Erbstreits habe die mögliche Verkäuferin die Formvorschrift nicht dazu benutzt, um Interessen zu verfolgen, die dieser entgegenstehen (E. 4.2 und 5.3). Die Tatsache, dass der Mietvertrag neun Jahre lang erfüllt wurde, sei irrelevant (E. 5.2); der Mietvertrag sei zudem später mit dem Hinweis übertragen worden, dass die Klausel, die das Verkaufsversprechen enthalte, nur gültig sei, wenn sie Gegenstand einer notariellen Urkunde sei (E. 5.3). Folglich verletzte die Vorinstanz kein Bundesrecht, als sie feststellte, dass die aussergewöhnlichen Umstände eines Rechtsmissbrauchs fehlten.

Kaufvertrag

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