BGer 5A_1043/2021 vom 27. Juni 2022
Dienstbarkeit; Ablösung durch Gericht; Art. 736-738 ZGB
Gerichtliche Ablösung der Dienstbarkeit wegen Interessenverlust – Erste Voraussetzung der Anwendbarkeit von Art. 736 ZGB ist mithin nach dem zwingenden Wortlaut dieser Bestimmung, dass neue Tatsachen eingetreten sind, seitdem die bei der Errichtung der Servitut beteiligten Parteien die gegenseitigen Rechte und Pflichten der Eigentümer des berechtigten und des belasteten Grundstücks begründet haben. Ob das Interesse im Sinn von Art. 736 Abs. 1 ZGB verloren gegangen ist, beurteilt sich nach Massgabe des Grundsatzes der Identität der Dienstbarkeit. Dieser besagt, dass eine Dienstbarkeit nicht zu einem andern Zweck aufrechterhalten werden darf als jenem, zu dem sie errichtet worden ist. Die rein theoretische Möglichkeit einer künftigen Veränderung der Verhältnisse genügt nicht, um die Aufrechterhaltung der Dienstbarkeit zu rechtfertigen. Will der Eigentümer des belasteten Grundstücks die Löschung gestützt auf Art. 736 Abs. 1 ZGB gerichtlich durchsetzen, so hat er darzutun, dass die Dienstbarkeit für das herrschende Grundstück jeglichen Nutzen verloren hat.
Umfangsermittlung der Dienstbarkeit – Für die Ermittlung von Inhalt und Umfang einer Dienstbarkeit gibt Art. 738 ZGB eine Stufenordnung vor. Ausgangspunkt ist der Grundbucheintrag. Soweit sich Rechte und Pflichten aus dem Eintrag deutlich ergeben, ist dieser für den Inhalt der Dienstbarkeit massgebend (Art. 738 Abs. 1 ZGB). Nur wenn der Wortlaut des Grundbucheintrags unklar ist, darf im Rahmen dieses Eintrags auf den Erwerbsgrund zurückgegriffen werden (Art. 738 Abs. 2 ZGB), das heisst auf den Begründungsakt, der als Beleg beim Grundbuchamt aufbewahrt wird Soweit die Auslegung des Grunddienstbarkeitsvertrags in Frage steht, gelten grundsätzlich die allgemeinen obligationenrechtlichen Regeln der Vertragsauslegung Diese allgemeinen Auslegungsgrundsätze gelten vorbehaltlos unter den ursprünglichen Vertragsparteien, im Verhältnis zu Dritten dagegen nur mit einer Einschränkung, die sich aus dem öffentlichen Glauben des Grundbuchs (Art. 973 ZGB) ergibt, zu dem auch der Dienstbarkeitsvertrag gehört. Bei der Auslegung des Dienstbarkeitsvertrags können gegenüber den Eigentümern, die an der Errichtung der Dienstbarkeit nicht beteiligt waren und im Vertrauen auf das Grundbuch das dingliche Recht erworben haben, individuelle persönliche Umstände und Motive nicht berücksichtigt werden, die für die Willensbildung der ursprünglichen Vertragsparteien bestimmend waren, aus dem Dienstbarkeitsvertrag selber aber nicht hervorgehen und für einen unbeteiligten Dritten normalerweise auch nicht erkennbar sind. Soweit die Rechte und Pflichten Dritter in Frage stehen, ist die Auslegung des Erwerbstitels mithin an die Schranken gebunden, die sich aus dem Eintrag ergeben, denn der gutgläubige Dritte wird im Vertrauen auf die Richtigkeit des Eintrages geschützt. Die Dienstbarkeit hat denjenigen Inhalt und Umfang, den sie haben muss, um ihren Zweck mit der geringst möglichen Beschränkung des Eigentums am dienenden Grundstück bestmöglich zu erreichen.
Mit anderen Worten sei für am Vertragsschluss nicht beteiligte Dritte – und das treffe vorliegend auf die Parteien dieses Verfahrens zu – nur der im Vertrag genannte Zweck für die Errichtung der Dienstbarkeiten und damit auch der Grunddienstbarkeit ersichtlich. Unter den Parteien massgeblicher Inhalt des Dienstbarkeitsvertrags sei damit bezüglich des ursprünglichen Zwecks der Dienstbarkeit die Erreichung der Bebaubarkeit der Grundstücke. Mit dem Erlass der revidierten Bau- und Zonenordnung der Gemeinde U. im Jahr 1985 sei dieser Zweck dahingefallen, denn ab diesem Zeitpunkt sei es nicht mehr nötig gewesen, durch die Baurechtsbeschränkungen auf im Sinn von § 234 (a) PBG noch fehlende oder in Änderung begriffene planungsrechtliche Festlegungen Rücksicht zu nehmen. Im Ergebnis habe das Bezirksgericht daher zu Recht in Gutheissung der Klage festgestellt, dass die streitgegenständliche Dienstbarkeit für die Grundstücke der Beklagten alles Interesse verloren habe.