BGer 4A_230/2021 vom 7. März 2022

Haftung des Geschäftsherrn; Verhältnis zwischen Zivilrecht und Strafrecht; Art. 53 und 55 OR

Auslegung von Art. 53 OR - Art. 53 OR ist nicht eindeutig, aber es geht jedoch klar hervor, dass er sich nicht auf die Feststellung des Sachverhalts und die daraus resultierende Rechtswidrigkeit bezieht. Es obliegt somit dem Zivilprozessrecht (früher den Kantonen vorbehalten) zu entscheiden, ob der Zivilrichter an den strafrechtlich festgestellten Sachverhalt gebunden ist oder nicht. Da die ZPO zu diesem Thema schweigt, ist der Zivilrichter nicht an den vom Strafrichter festgestellten Sachverhalt gebunden; er entscheidet nach eigenem Ermessen, ob er den strafrechtlich festgestellten Sachverhalt übernimmt oder nicht, und entscheidet frei über die Rechtswidrigkeit. Allerdings hindert nichts den Zivilrichter daran, die Feststellungen des Strafrichters zu übernehmen, da dieser über umfangreichere Ermittlungsmöglichkeiten verfügt. Wenn der Zivilrichter der Meinung ist, dass er der Meinung des Strafrichters folgen kann, trifft er eine Opportunitätsentscheidung (E. 2.2).

Im vorliegenden Fall hat die Vorinstanz also nicht gegen Art. 53 OR verstossen, indem sie von der Analyse der Strafrichter abwich und der Hilfskraft vorwarf, in einer besonders gefährlichen Situation nicht die notwendigen Schutzmassnahmen getroffen zu haben, um zu verhindern, dass einer der anderen Beteiligten auf das Loch trat, das er gerade mit einer dünnen Isolationsschicht abgedeckt hatte (E. 2.3).

Haftung des Arbeitgebers - Art. 55 OR führt eine spezifische Haftung für das Handeln Dritter ein, die auf einer mutmaßlichen Sorgfaltspflichtverletzung des Arbeitgebers beruht. Der Arbeitgeber, der von den Diensten seiner Hilfskraft profitiert, muss auch die Folgen von deren Versäumnissen tragen (respondeat superior), zumal die betreffende Person häufig kaum über die wirtschaftlichen Mittel verfügt, um den bei der Ausführung ihrer Arbeit entstandenen Schaden zu beheben. Um sich zu exkulpieren, muss der Arbeitgeber beweisen, dass er alle nach den konkreten Umständen gebotene Sorgfalt walten ließ (cura in eligendo, instruendo et custodiendo) oder dass ein sorgfältiges Verhalten den Eintritt des Schadens nicht verhindert hätte. Die Anforderungen an den Arbeitgeber sind hoch; die Zulassung von Entlastungsgründen darf nur restriktiv zugelassen werden. Die erforderliche Sorgfalt steht in einem angemessenen Verhältnis zur Gefährlichkeit der Arbeit der Hilfskraft. Allerdings darf man nicht das Unmögliche verlangen: Man muss sich an das halten, was im täglichen Betrieb eines Unternehmens vernünftigerweise verlangt werden kann (E. 3.2).

Im vorliegenden Fall haben die Waadtländer Richter nicht gegen Bundesrecht verstossen, indem sie die Auffassung vertraten, dass die sehr gefährliche Situation, die durch die Überdeckung des Lochs und das Fehlen einer Absperrung entstanden war, Massnahmen wie die vorgeschriebenen erforderte (die insbesondere darin bestanden, einen der anwesenden Arbeiter um Hilfe zu bitten) auch nur für einen kurzen Moment, da zwei weitere Personen auf demselben Stockwerk arbeiteten (E. 3.3.2).

Die Haftung des Arbeitgebers geht über die klassische Verschuldenshaftung hinaus, und er kann sich nicht auf seine persönliche Situation berufen: Er muss beweisen, dass er alle Maßnahmen ergriffen hat, die durch objektive Kriterien und die konkreten Umstände diktiert wurden. Die Praxis ist bei der Zulassung von Entlastungsmitteln restriktiv, was insbesondere mit der ratio legis von Art. 55 OR und den wirtschaftlichen Überlegungen, die dieser Regel zugrunde liegen, in Verbindung gebracht werden kann (E. 3.5.2).

Strafrecht

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