BGer 4A_351/2021 vom 26. April 2022
Werkvertrag; Zurückbehalterecht; Art. 82 OR und 153 SIA-Norm 118
Leistungsverweigerungsrecht - Wer bei einem zweiseitigen Vertrag den anderen zur Erfüllung anhalten will, muss nach Art. 82 OR entweder bereits erfüllt haben oder die Erfüllung anbieten, es sei denn, dass er nach dem Inhalt oder der Natur des Vertrags erst später zu erfüllen hat. Art. 82 OR gewährt dem Schuldner eine aufschiebende Einrede mit der Wirkung, dass er die geforderte Leistung bis zur Erbringung oder Anbietung der Gegenleistung zurückhalten darf. Der Gläubiger kann sich begnügen, auf vorbehaltlose Leistung zu klagen. Es obliegt dem Schuldner, die Einrede zu erheben. Ist die Einrede berechtigt, hat der Gläubiger also die Leistung weder erbracht noch angeboten, so schützt das Gericht die Klage in dem Sinne, dass es den Schuldner zur Leistung Zug um Zug, d.h. zu einer aufschiebend bedingten Verpflichtung verurteilt. Der Kläger braucht die Verurteilung des Beklagten zur Leistung Zug um Zug nicht zu verlangen. Das Gericht erlässt ein dahingehendes Urteil auf Einrede des Beklagten nach Art. 82 OR. Das Leistungsverweigerungsrecht gemäss Art. 82 OR ist nicht von Amtes wegen zu berücksichtigen.
Erhebt der Schuldner die Einrede, ist es am Gläubiger zu beweisen, dass er seine eigene Leistung erbracht oder gehörig angeboten hat. Art. 82 OR weicht vom Prinzip ab, wonach den Beweisbelasteten auch die (objektive) Behauptungslast trifft. Der Schuldner hat nämlich zu behaupten, dass der Gläubiger die Leistung weder erbracht noch gehörig angeboten hat, und dieser hat anschliessend zu beweisen, dass er seine Leistung erfüllt oder gehörig angeboten hat. Hingegen führt Art. 82 OR zu keiner Umkehr der Beweislast. Die allgemeine Regel von Art. 8 ZGB gilt: Es obliegt zunächst dem Gläubiger, der seine Forderung durchsetzen will, die Tatsachen zu behaupten und zu beweisen, die den Bestand seiner Forderung feststellen lassen. Der Schuldner, welcher die Einrede des nicht erfüllten Vertrags erhebt, hat den Bestand seiner Gegenforderung zu beweisen. Es obliegt anschliessend dem Gläubiger, die Erfüllung oder das gehörige Angebot seiner eigenen Leistung nachzuweisen, was auch bedeutet, dass er die Folgen der Beweislosigkeit trägt.
Auslegung eines Vertrags (Grundsätze) - (E. 3.1.2); Recht auf Beweis (Erinnerung an die Grundsätze (E. 3.1.3); vorzeitige Beweisführung (E. 3.1.4). Im vorliegenden Fall wurde die Einrede der Nichterfüllung zu Recht erhoben. Denn der Anspruch auf den Restbetrag des Werkpreises, der fällig ist, und der Anspruch auf Nachbesserung, der ebenfalls fällig ist, stehen sich gegenüber. Da sich der Bauunternehmer bisher geweigert hat, die Reparatur durchzuführen, muss der Bauherr dazu verurteilt werden, den Restbetrag des Baupreises im Austausch für den Ersatz der strittigen Rohrleitung zu zahlen (E. 3.3.4 und 3.4). Zudem stellt eine Schlussabrechnung im Sinne von Art. 153 der SIA-Norm 118 keinen Kontokorrentvertrag dar, der gekündigt werden könnte und alle offenen Forderungen aus dem Werkvertrag umfassen würde und die Einrede der Nichterfüllung vereiteln könnte (E. 3.4.1).